Kapitel 23

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Pecus Beine trugen ihn vorwärts. Die Luft war beinahe windstill und so hörte der Heiler das Röcheln, Glucksen und schmerzverzerrte Stöhnen, Vereinzelter. Verlorener Seelen.
Die Erkenntnis, dass er keinen von ihnen helfen konnte, traf ihn hart. Wie ein Schlafwandelnder trat er neben gekrümmten Körpern in den Schnee. Wie lange sie schon da lagen, konnte der Heiler nicht sagen. So blass, wie sie waren, hätte er auf Tage geschlossen, würde er es nicht besser wissen.


Im Augenwinkel sah er etwas Schwarzes. Augenblicklich kauerte er am Boden. Das Gesicht an ein eisiges Kettenhemd gedrückt. In der Not kroch er unter einen Körper. Sein Atem stockte, als er eine Bewegung wahrnahm. In verzweifelter Hoffnung schloss er die Augen. Wie ein Schleier legte sich die Kälte über ihn.


Durch die Ruhe war ein Geräusch wie von einem plätschernden Fluss zu hören. Es kam näher. Die dickflüssige Masse schwappte über Körper und Boden. Dann kam sie zum Stehen. Das Schattenwesen war nah. Der Heiler konnte vor seinem inneren Auge sehen, wie es sich zu voller Größe aufbaute.


Ein Geräusch ertönte. Jemand hustete. Pecus spürte die Vibration an seinem Körper. Als er die Augen öffnete, fühlte er eine Erschütterung. Ein zu einem Säuseln verkommender Schrei kam aus dem Mann über ihm. Dann fielen Lichtstrahlen durch ein Loch in dessen Körper. Die dunkle Masse hatte das Bein des Heiles um wenige Fingerbreit verfehlt.


Pecus erstarrte innerlich zu Stein, während die Abscheulichkeit über den Körper des Getöteten kroch. Die Luft stank nach Verwesung, obwohl es in der Kälte eine lange Zeit dauern sollte, bis die Leichen verrottet wären. Der Heiler verstand, dass der beißende Gestank von den Schattenwesen ausging.


Nach einer Pause, die sich für ihn wie eine Ewigkeit anfühlte, hörte er, wie das Wesen sich entfernte. Seine Kehle war trocken wie Stroh. Mit zwei Fingern am Hals versuchte er, den eigenen Herzschlag zu erfühlen. Die Pecus Haut fühlte sich so an, wie die eines Toten. Er atmete nicht und selbst sein Blut schien nicht zu fliesen.


Der Heiler holte Luft. Anschließend ertastete er einen sanften Druck. Sein Herz schlug noch. Das Gewicht des Soldaten über ihm, erschwerte es dem Heiler, zu atmen.


Unwürdig kroch er unter dem Verstorbenen hervor. Jeder Gedanke war ausgeblendet. Sein Geist war beherrscht von den schwarzen Kreaturen.


Nahe dem Wahnsinn guckte er sich nach einem Fluchtweg um. Die beklemmenden Mauern brachten seine Gebeine zum Zittern. Wie viele waren es und wo hielten sie sich auf? Fragen, welche er zum einen beantwortet haben wollte und dennoch deren Auflösung fürchtete.


Sein Blick traf auf die Burgtore. Sie standen offen. Pecus konnte seinem Körper dabei zusehen, wie er in eine Fluchthaltung überging. Die Schmerzen, Zweifel und Selbst die Angst verflogen wie der Wind. Er war gefasst. Im Jetzt, mit dem Blick auf sein einziges Ziel.
Sein Rücken erhob sich, Wirbel für Wirbel. Dann seine Schultern und der Kopf. Er stand aufrecht da, wie an dem Tag, an dem er zum Heiler ernannt worden war. Obwohl es nicht da war, spürte er das Abzeichen an seiner Brust.
Sein linker Stiefel hob sich, von dem Bein auf dem er stand und trat auf einen Arm. Der Rechte tat es ihm gleich. In aller Seelenruhe setzte der Heiler einen Fuß vor den anderen. Sein Atem erfror in der Luft. Noch einen Schritt. Noch einen. Zwei. Drei. Vier.
Ein Toter rührte sich. Schwarze Substanz entglitt seiner Hülle.


Fünf. Sechs.

Es blieb still.

Das Tor stets geöffnet. 


Sieben. Acht. Neun. Zehn.


Pecus trat auf Schwerter, Gestein, gefrorenes Fleisch. Ein Kettenhemd rasselte, während sein Stiefel sich wieder hob.
Elf. Zwölf dunkle Wesen sah er allein vor sich. Hinter seinem Rücken und den Seiten erahnte er unzählige weitere.
Pecus Atem ging gleichmäßig. Sein Mund rauchte wie ein Feuer, kurz vor dem Ersticken.


Dreizehn. Vierzehn. Fünfzehn Schritte, trotzdem lebte er.


Er sah sie nicht an. Wie die Umrisse verloren gegangener Menschen, steiften sie an ihm vorbei. Soldaten aus unzähligen Schlachten. Verwundete, Mütter, Krieger, Väter, Kinder, Bauern, Trauernde, Gestörte, Verängstigte, Ritter, Adlige, Priester und zahllose mehr.
Sechzehn. Siebzehn.


Gesichtslose Schemen. Schatten aus alter Erinnerung. Er kannte jeden von ihnen und doch keinen.
Achtzehn. Neunzehn. Zwanzig.


Der Heiler senkte sein Haupt, als etwas Dunkles über ihn hinweg glitt. Kein Angriff, eher ein Vorbeischlendern.
Einundzwanzig. Zweiundzwanzig.


Die massiven Holztore lagen vor ihm und denen zu Grunde, ein Teppich aus Tod und Niedergang.
Dreiundzwanzig. Vierundzwanzig.


Er hörte auf zu zählen. Die Schritte gingen in einander über und die Zeit verschwamm. Als würde Wasser durch eine Sanduhr fließen, ohne das es ein Ende gab.


Erst als er die weite Landschaft vor sich sah, mit dem Tal zu seinen Füßen, gelangte Pecus in die Wirklichkeit zurück. Er konnte sich nicht erinnern, durch das Tor gelaufen zu sein.


Ohne sich ein weiteres Mal umzusehen, ließ er die Festung des Unheils hinter sich und begann den Abstieg. Sein Herz schlug so schwach, als läge er im Sterben und dennoch fühlte er sich so lebendig wie nie zuvor in seinem Leben. 

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